Die Widerspruchslösung verführt. Ja, aber …
Stellungnahme vom 21. Mai 2019
Die Widerspruchslösung (WSL) kann Menschen zu einer Entscheidung verführen, die sie eigentlich nicht treffen wollen. So lautet ein beliebtes Argument gegen die WSL. Das Argument ist nicht falsch – aber noch kein Grund, die WSL abzulehnen, denn bei der Zustimmungslösung (ZL) kann es eine solche Verführungswirkung ebenfalls geben.
Aus den Untersuchungen und Experimenten der Verhaltensökonomik, ein noch junger Zweig der Volkswirtschaftslehre, wissen wir, dass die Art und Weise der Präsentation von zwei Optionen eine Wirkung hat auf die Entscheidung, die getroffen wird. Oft können Optionen entweder als WSL oder als ZL präsentiert werden. So auch bei der Organspende.
Im Rahmen einer WSL ist die Bereitschaft zur postmortalen Organspende „voreingestellt“, sie ist dann die „Standard“-Option (auch als „Default“ bezeichnet). Man kann auch widersprechen, aber die Standard-Option „kein Widerspruch“ übt einen Sog aus.
Im Rahmen einer ZL ist dagegen die Ablehnung der postmortalen Organspende der voreingestellte Standard. Man kann auch zustimmen, aber die Standard-Option „keine Zustimmung“ übt einen Sog aus.
Die Wahl der Standard-Option erfolgt immer passiv, es reicht ein Nichtstun, während die Wahl der nicht voreingestellten Option aktives Handeln erfordert – bei der WSL und bei der ZL.
Allerdings: der Sog ist wirkungslos bei Menschen, die wissen, was sie wollen. Sie wählen die Alternative, die für sie am besten ist, unabhängig von der Voreinstellung. Nur auf die Unentschlossenen hat die Voreinstellung einen Einfluss. Dieser Einfluss kann sozial erwünscht und unerwünscht sein – aber die individuelle Entscheidungsautonomie beeinträchtigen.
Wenn die WSL als Voreinstellung gilt, kann es Menschen geben,
- die noch unentschlossen sind, ob sie nach ihrem Tod Organe zur Verfügung stellen wollen,
- deren Einstellung aber eher in Richtung Ablehnung der Organspende geht,
- ohne dass sie aber einen Widerspruch dokumentiert hätten
- und dies auch nicht den Verwandten kommuniziert haben.
Diese Menschen könnten im Rahmen einer WSL zu einer Organspende herangezogen werden, obwohl sie dies eher ablehnen als bejahen würden. In gewisser Weise ist die Entscheidungsautonomie dieser Menschen durch die WSL beeinträchtigt. Allerdings wäre, sozial gesehen, die Wirkung günstig, denn es würde mehr Organspenden geben.
Zu einer solchen Einschränkung der Entscheidungsautonomie kann es aber auch kommen, wenn die ZL als Voreinstellung gilt, denn es kann Menschen geben,
- die noch unentschlossen sind, ob sie nach ihrem Tod Organe zur Verfügung stellen wollen,
- deren Einstellung aber eher in Richtung Bejahung der Organspende geht,
- ohne dass sie aber eine Zustimmung dokumentiert hätten
- und dies auch nicht den Verwandten kommuniziert haben.
Diese Menschen könnten im Rahmen einer ZL nicht zu einer Organspende herangezogen werden, obwohl sie dies eher bejahen als ablehnen würden. Deren Entscheidungsautonomie wäre in gewisser Weise beeinträchtigt – wobei das Ergebnis, weniger Organspenden, zudem sozial nachteilig wäre.
Die folgende Tabelle zeigt im Überblick die möglichen Fälle, due bei Unentschlossenen auftreten können.
Die Wirkung der Voreinstellung auf die Unentschlossenen:
Autonomie und Zahl der Organspenden
Es gilt die |
Einige Menschen sind unentschlossen, aber … |
Entscheidungs-autonomie ist … |
Wirkung auf Zahl der Organspenden |
1. Widerspruchslösung |
…leicht überwiegend gegen die Organspende |
…leicht beeinträchtigt |
Günstig |
2. Widerspruchslösung |
…leicht überwiegend für die Organspende |
…nicht beeinträchtigt |
Günstig |
3. Zustimmungslösung |
… leicht überwiegend gegen die Organspende |
…nicht beeinträchtigt |
Ungünstig |
4. Zustimmungslösung |
… leicht überwiegend für die Organspende |
…leicht beeinträchtigt |
Ungünstig |
Das Ergebnis ist: Beide Regelungen – die Voreinstellung „WSL“ wie auch die der „ZL“ – können, aber müssen nicht zu einer Beeinträchtigung der Entscheidungsautonomie führen. Dazu kommt es nur bei den Unentschlossenen und nur in den Fällen 1 und 4, in denen die Menschen sich gegen die Voreinstellung entscheiden müssten (was sie könnten, es aber nicht tun, weil sie zu unentschlossen sind). Die soziale Wirkung der WSL (1 und2) ist in jedem Fall günstig, die der ZL ungünstig (3 und 4). Warum haben sich manche Menschen in der Frage ihrer Bereitschaft zur Organspende nach dem Tod noch nicht zu einer Entscheidung durchgerungen? Vermutlich, weil ihnen diese Frage nicht sehr wichtig ist.
Es scheint so, dass manche Kritiker der WSL gar nicht sehen, dass es zu einer Einschränkung der Entscheidungsautonomie nicht nur bei der WSL (Fall 1) sondern auch bei der ZL (Fall 4) kommen kann. Wenn sie dies sehen, müssten sie ihre Ablehnung der WSL damit begründen, dass die Einschränkung der Entscheidungsautonomie im Fall 1 gravierender sei als im Fall 4. Aber dafür bräuchte es dann auch eine Begründung. Mir ist sie noch nicht begegnet.
Dr. Rigmar Osterkamp